An einem trüben Montagmorgen steigt die 7. Klasse der Steinerschule Bern in Wassen aus dem Postauto. 19 Schülerinnen und Schüler, ausgerüstet mit gutem Schuhwerk und kompakten Rucksäcken, in welche nur das Nötigste für die kommenden 6 Tage eingepackt wurde. Die Stimmung ist gut, trotz angekündigtem Regenwetter.
Jonas, der Klassenlehrer, hatte die Alpenüberquerung vor ca. 10 Jahren initiiert, seitdem hat sie sich als Projektwoche in der 7. Klasse etabliert. Welches sind die Ziele dieses Lagers? Er nennt einige: die Klasse kennenlernen, Förderung des Zusammenhalts, Grenzen ausloten, Bewegung als Gegenpol zum Stillsitzen im Unterricht, in gewisser Weise ist es auch ein Symbol für den Übergang in die Oberstufe.
Die Wanderung beginnt geschichtsträchtig mit der Schöllenenschlucht und der Teufelsbrücke, führt anderntags hinauf auf den Gotthardpass. Ein kalter Wind treibt Wolken über die Passhöhe, die modernen Windturbinen rotieren fleissig. Sie gehören genau so zur Geschichte dieses Ortes, wie die Stauseen, Bunkeranlagen und die legendäre Tremola, die gepflästerte Passstrasse, die sich in unzähligen Kurven den Berg hochwindet.
Der dritte Tag erwacht mit blauem Himmel und Sonnenschein. Der Weg verläuft hoch über dem Bedretto-Tal, ohne grosse Höhendifferenzen. Ein Taucher hängt tot in einem Baum, was ist passiert? Black-Stories, diese Rätselkrimis, bei denen man durch geschicktes Fragestellen den Tathergang herausfinden muss, machen die Runde. Wenn alle erzählt sind, werden eigene, neue Geschichten erfunden. Unterwegs sorgen mal ein landender Helikopter, mal ein paar weidende Esel, die sich streicheln lassen, für Abwechslung.
Die Landschaft wandelt sich, wird steiniger, schroffer, alpiner. Geographischer Höhepunkt ist die die Capanna Cristallina auf 2575 Meter über Meer, ein modernes, schlichtes Bauwerk, das schon von weitem sichtbar ist. Die Luft wird dünner, der Aufstieg bringt einige Jugendliche an ihre Grenzen. Doch der Durchhaltewillen ist gross, die Hilfsbereitschaft ebenso. Ein paar Blasen werden verarztet. Wer am Ende seiner Kräfte ist, kann darauf zählen, dass ihm/ihr der Rucksack abgenommen wird. Und langweilig wird es nie: Frösche werden eingefangen, Gämsen entdeckt, Kristalle gefunden.
In der Hütte sind die Strapazen schliesslich schnell vergessen. Die Frage stellt sich: wie soll das limitierte Sackgeld eingesetzt werden: ein Süssgetränk als Belohnung für die Strapazen oder eine warme Dusche?
Im Aufenthaltsraum geht es fröhlich zu und her, es wird Tichu, Gemsch oder Schach gespielt. Die Handies blieben zuhause und sind nie Thema. Plötzlich Aufregung: Steinböcke in Hüttennähe! Die majestätischen Tiere lassen sich aus nächster Nähe beobachten. Dann endlich: das Nachtessen wird aufgetischt, der Appetit ist gross. Jeden Abend gibt es zudem eine kurze Schulsequenz: die Ereignisse des Tages werden in den Wandertagebüchern festgehalten.
In der Nacht fegt ein Gewitter über die Hütte. Als wir uns am nächsten Morgen auf die Wandersocken machen, ist der Weg glücklicherweise bereits wieder trocken: wir durchqueren massive Geröllhalden, passieren die eine oder andere exponierte Stelle. Der Blick schweift hinüber zum Basòdino-Gletscher und zu den Stauseen weit unten im Tal. Energie, Klimawandel, Geologie, sanfter Tourismus… viele Themen lassen sich hier oben hautnah veranschaulichen. Dann liegt plötzlich der Lago Nero vor uns, dieser prächtige, dunkelgrüne Bergsee, der zur Mittagspause einlädt, zum Steinewerfen und zum Eisbaden für die Unerschrockenen.
Den steilen Schlussabstieg kürzen wir per Seilbahn ab. Das hat sich die Klasse verdient, nach tapfer gewanderten 70 Kilometern und 3700 Höhenmetern. Stattdessen gibt es ein lockeres “Auslaufen” unten im engen, von steilen Felswänden gesäumten Val Bavona. Hausgrosse Felsblöcke auf der Talsohle und rauschende Wasserfälle zeugen von den Naturgewalten, die hier herrschen.
Ich frage die Schüler:innen nach ihrem persönlichen Highlight der Woche. Die Steinböcke! Die gemeinsamen Lachanfälle! Der Hüttenhund in der Capanna Pianseco! Das Frühstück auf dem Gotthard (mit warmen Gipfeli)! Das Baden im Bergsee… Höhepunkte eines gemeinsam gemeisterten Abenteuers.



















